Verwechslungen können passieren
Eine psychische Krankheit ist bei den meisten Menschen nicht auf Anhieb ersichtlich. Viele meiner Klienten/innen legen grossen Wert auf ein ordentliches Erscheinen. Sie sind sauber, gepflegt und die Frauen oftmals auch schön geschminkt. Da ich den ganzen Tag mit dem Velo unterwegs bin, wirke ich manchmal etwas zerzaust. So kann es in der Öffentlichkeit schon mal zu Verwechslungen kommen. Dies macht mir persönlich jedoch wenig aus.
Heute möchte ich zwei eindrückliche Erlebnisse mit Dir teilen, von meiner Arbeit bei Klientinnen vor Ort. Hier kommt das Erste:
Eine Klientin kriegte unerwartet ihre erste Betreibung. Sie wollte diese unbedingt verhindern und setzte alle Hebel in Bewegung. Die Verhinderung sei möglich, hiess es vom Betreibungsamt, sie müsse jedoch zwei Bedingungen erfüllen: 1. den offenen Betrag sofort einzahlen und 2. die Einzahlungsbestätigung beim Betreibungsamt unverzüglich vorzeigen. Doch meine Klientin leidet unter einer Angsterkrankung und war somit nicht imstande, dies innert wenigen Stunden durchzuführen. Als Lösung stellte mir die Klientin eine Vollmacht aus und ich radelte sofort los, um die Rechnung einzubezahlen und die Rechnungsbestätigung noch vor dem Mittag auf dem Betreibungsamt vorzuzeigen. Um 11.50 Uhr kam ich an der Winkelriedstrasse an, verirrte mich in der Eile im Innenhof und fand den richtigen Eingang nicht. In der Nähe standen drei adrett gekleidete Geschäftsfrauen und sprachen miteinander. Ich ging zu ihnen hin und fragte nach dem Eingang zum Betreibungsamt.
Sie schauten mich von oben nach unten und dann wieder von unten nach oben mit einem äusserst abwertenden Blick an. Dies beschämte mich sehr. Ich fühlte mich armselig und wäre am liebsten im Boden versunken. Seit diesem Ereignis verstehe ich nun viel besser, wie es sich für Menschen anfühlen muss, welche solche Orte aufsuchen müssen.
Das zweite Erlebnis war nicht weniger eindrücklich:
Eine Klientin von mir wollte die Psychotherapie zusätzlich mit einer komplementären Behandlung ergänzen. Die Klientin hat eine dissoziative Identitätsstörung* und fühlte sich nicht imstande, den Erstbesuch alleine durchzuführen. Aus diesem Grund entschloss ich mich, sie beim ersten Mal zur Komplementärtherapeutin zu begleiten. Leider verspätete sich die Klientin und ich hatte vergessen die Therapeutin zu informieren, dass ich als Begleitperson mitkommen würde. Meine Klientin hat die Komplementärtherapeutin bereits über ihre Diagnose per Telefon informiert, was ich jedoch nicht wusste.
*Die dissoziative Identitätsstörung zeigt sich in verschiedenen Persönlichkeitsanteilen, welche abwechselnd die Kontrolle über das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen übernehmen. Diese verschiedenen Persönlichkeitsanteile verfügen über eigene Charaktereigenschaften, Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Wahrnehmungs- und Denkmuster.
Nun stand ich dieser sympathischen Therapeutin gegenüber. Diese glaubte, ich sei die Klientin und war sichtlich angespannt, unruhig und beobachtete mich auf eigenartige Weise. Sie wusste nicht so recht, wie mit mir umgehen. Sobald sie erfuhr, dass ich nicht die Klientin bin, entspannte sich die Situation erheblich. Da wurde mir bewusst: selbst Therapeuten, die Menschen mit komplexer Traumafolgestörungen behandeln, haben zum Teil keine oder zumindest wenige Kenntnisse über Dissoziationen (Abspaltungen vom Alltagsbewusstsein).
Es hat mich überrascht, wie sich sogar Therapeuten im Verhalten verändern, wenn sie einem Menschen mit psychischer Erkrankung begegnen. Wieso ist das so? Was ist an ihnen so anders? Sind sie etwa zu unberechenbar? Ja, vielleicht sogar gefährlich?
Ich arbeite seit 25 Jahren mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung zusammen, ich wurde nie bedroht, geschweige angegriffen. Grenzen müssen eingehalten werden, das ist ganz klar, und das tun sie in den allermeisten Fällen auch. Vermutlich unter anderem, weil sie mich als zuständige Psychiatrie-Fachperson nicht verlieren möchten. Grenzen können auch ganz viel Klarheit schaffen.
Selbst- und Fremdverletzungen sind nicht akzeptabel und da gibt es für mich keine Ausnahme. Ich suche mit der betreffenden Person nach Möglichkeiten, wie sie mit ihrem inneren Druck, Frust und ihrer Wut umgehen können, ohne sich oder andere zu verletzen.
Deshalb meine Empfehlung an Dich: Behandle Dein Gegenüber so, wie Du selber behandelt werden möchtest. Ganz egal, ob es sich um einen Menschen mit einer psychischen Erkrankung handelt oder nicht. Wir alle haben unsere Lebensgeschichte, unsere Prägungen und entsprechende Strategien, wie wir damit umgehen. Gehen wir einen Schritt auf einen anderen Menschen zu und versuchen seine Perspektive zu verstehen.
Fragen, die wir uns selber stellen können:
Wie will ich Menschen mit psychischer Erkrankung begegnen?
Wer in meinem Umfeld benötigt aktuell Unterstützung?
Was kann ich für ihn tun?
Manchmal reicht schon ein gutes Wort, zuhören, eine kleine Geste, eine Einkaufstasche die Treppe hochtragen oder ein Lächeln.
Falls Du selber von Trauma-Folgen betroffen bist, welche sich hartnäckig in Deinem Leben halten, so kannst Du gerne mit mir Kontakt aufnehmen und wir besprechen Deine aktuelle Situation.
Mit einem Lächeln an Dich verabschiede ich mich für diesen Monat und wünsche Dir gute Begegnungen in diesem neu begonnenen Jahr.