Kontrolle versus Lebendigkeit

Kontrolle versus Lebendigkeit

Kontrolle zu haben im Leben ist sinnvoll und wichtig. Doch was macht es mit uns, wenn wir unser Leben zu sehr kontrollieren, vorplanen und strukturieren? Davon handelt mein neuer Blogbeitrag.

Schön alles unter Kontrolle haben

Es ist zwar schon ein paar Jahre her, doch möchte ich Dir gerne diese Geschichte erzählen: Eine junge Klientin (ich verwende nachfolgend den fiktiven Namen Livia) äusserte, wie sehr ihr der Alltag keine Freude mehr mache. Ihre Tage würden immer im selben Modus verlaufen, alles sei vorprogrammiert. Sie sei sich bewusst, dass sie selber es sei, welche ihre Tage so komplett durchstrukturiere. Sie frage sich, weshalb sie dies so mache.

Das Thema taucht in unseren Gesprächen immer wieder auf. Es ist spürbar, wie sehr Livia darunter leidet. Sie weiss jedoch nicht, wie sie diese Situation ändern könnte.

In Livias Leben gibt es einige Einschränkungen: In den Keller gehen, an einem Waldrand entlanglaufen – ganz zu schweigen, in den Wald hineinzugehen – oder an einer stark befahrenen Strasse entlanggehen. Das sind alles Dinge, die sie nicht durchführen kann. Es sind Orte, die sie vermeidet.

Auch in grossen Menschenmengen oder bei persönlichen Gesprächen kommen ungute Gefühle, Angst, körperliche Reaktionen bis hin zu Panik- oder Fluchtgedanken hoch.

Livia berichtet, dass sie in ihrer Kindheit Schlimmes erlebt habe, worüber sie bis heute nicht spricht, auch nicht mit ihrer Therapeutin. Sie komme aus einem „emotional kalten Haus“, hat in der Schule Mobbing erlebt und fühlte sich von klein auf alleine, überfordert und schutzlos.

Es zeigt sich im Leben dieser jungen Frau ein sehr stark kontrollierender Anteil. Der Kontroll-Anteil zeigt sich besonders bei Neuem, Unbekanntem oder wo Livia negative Erfahrungen gemacht hat. Dieser Anteil wittert überall Bedrohung und übernimmt sofort die vollständige Führung.

So ist es Livia nicht möglich, spontan etwas zu unternehmen oder auf Handlungen flexibel zu reagieren. Vorprogrammiertes Handeln gibt eine scheinbare Sicherheit, um unerwarteten Ereignissen aus dem Weg zu gehen.

Der Kontroll-Anteil hat seinen guten Grund im Leben dieser Frau präsent zu sein: Die Kontrolle beschützt ihre verletzten, kindlichen Anteile.

Hinweis

Was unter Anteile gemeint ist und wie ich diese in die gemeinsame Arbeit miteinbeziehe, kannst Du gerne im Blogbeitrag „Mein innerer Akku ist leer“ nachlesen.

Wird ein schwieriges Thema angesprochen, so wird das innere System der Klientin in Alarmbereitschaft versetzt. Sie sitzt dann stumm da, mit weitem, starrem Blick. Das Umfeld wird auf Bedrohung gescannt und Livia kann sich nicht mehr auf das Gespräch konzentrieren, geschweige Antwort geben.

Wie wieder mehr Lebendigkeit möglich wird

Als sich der Kontroll-Anteil von Livia wieder einmal zeigte, wertschätzte ich ihn mit folgenden Worten:

«Du hast sehr wohl deine Berechtigung, dich zu zeigen und Livia zu beschützen. Danke für deine wertvolle und wichtige Arbeit. Ich weiss, du willst nur das Allerbeste für sie. Doch nun ist Livia erwachsen, in Sicherheit und benötigt keine so starke Beschützung mehr von dir. Bleibe auf jeden Fall bestehen und beschütze sie, denn du wirst weiterhin gebraucht. Mache jedoch nur auf reale Gefahren aufmerksam und das auf weniger dominante und extreme Weise, weil du ansonsten alle anderen inneren Anteile zu sehr erschreckst.»

Für Livia war es zu Beginn schon aussergewöhnlich, wenn ich mit diesem kontrollierenden Anteil in ihr sprach. Doch sie nahm dadurch eine positive Veränderung wahr. Sie konnte besser durchatmen, spürte weniger Druck in der Brust und fühlte mehr Ruhe.

Gleichzeitig kamen vermehrt Gefühle hoch, was die Klientin als unangenehm empfand. Die Gefühle waren in der Kindheit verdrängt worden, zu intensiv und bedrohlich waren sie. Doch als Erwachsene lernte Livia nun die anderen Seiten der Gefühle kennen:

  • Wenn wir Gefühle haben, so spüren wir Lebendigkeit.
  • Gefühle sind wichtig für die Handlungsebene, geben uns Antrieb, Motivation um eine angenehme Gefühlslage zu erreichen.
  • Unangenehme Gefühle können uns auch zum Handeln bringen. Z.B. kann das Gefühl von Wut sehr wertvoll sein, um aus einer scheinbar ohnmächtigen Situation herauszukommen.
  • Gefühle geben uns Informationen über Menschen, Ereignisse und Situationen.
  • Durch Gefühle kommunizieren wir mit anderen Menschen und Lebewesen.

Dies waren kleine Schritte, und doch tat sich im Leben von Livia einiges:

  • Sie nutzt wieder vermehrt ihr Trampolin, bewegt sich mehr.
  • Sie ging zum Coiffeur und liess sich eine neue Frisur schneiden, was sie jahrelang nicht mehr gemacht hatte.
  • Sie ist weniger in sozialen Medien unterwegs, versucht vermehrt, mit realen Freunden abzumachen und Zeit mit ihnen zu verbringen.
  • Sie erzählt mehr von sich persönlich, ohne Angst zu haben sich blosszustellen.

Die Augen wirken strahlender, die Schlafqualität hat sich etwas gebessert und die Kilos sind etwas weniger geworden. Und sie konnte schrittweise ihre Wohnung auf Vordermann bringen. Die positiven Veränderungen gaben ihr Kraft, weiter dranzubleiben.

Was heisst das für Dich?

Nimm Deine Gefühle wahr, nehme sie ernst und lasse sie zu, auch wenn sie unangenehm oder «unerwünscht» sind. Denn sie sind häufig in einer inneren Not entstanden. Du kannst gerne auch zu ihnen sprechen, so wie ich es bei meinen Kunden/innen mache.

  • Zeige Gefühle Deinen Mitmenschen gegenüber. Sprich nicht nur vom Wetter, den aktuellen Nachrichten und vom Nachbarn ;-).
  • Getraue Dich, Deinen vertrauten Personen über Dich und Deine Befindlichkeit zu erzählen.
  • Höre aufmerksam zu, wenn Dir etwas erzählt oder anvertraut wird. Das ist Nahrung für die Seele! Natürlich darfst Du Dich auch abgrenzen, wenn es zu viel wird.

Möchtest Du mehr erfahren über Gefühle? Dann empfehle ich Dir das Buch «Das ABC der Gefühle» von Udo Baer und Gabriele Frick-Baer. Darin sind alle Gefühle verständlich erklärt und es kann Dir dabei behilflich sein zu verstehen, was in Dir los ist.

Fazit:

Die Kontrolle im eigenen Leben zu haben, ist sehr wichtig. Doch zu viel Kontrolle ist geradezu kontraproduktiv. Es schränkt die Spontanität und Kreativität zu sehr ein. Ein guter Mix ist das A und O und lässt sich mit etwas Übung erreichen.

Ich wünsche Dir einen strukturierten Alltag mit vielen farbenfrohen, fröhlichen und spontanen Stunden.